Sprachrat Themenpapier : Mehrsprachigkeit in Europa

Mehrsprachigkeit in Europa - Identität per Diversität
Deutsch in Europa – Teil eines Ganzen
Mehrsprachigkeit in Deutschland - Gesellschaft und Sprache im Wandel

 

Mehrsprachigkeit in Europa – Identität per Diversität

Mehrsprachigkeit ist eine europäische Tatsache: In Europa sind ca. 200 verschiedene Sprachen beheimatet; die Europäische Union hat 24 Amtssprachen; die Mehrspra­chenkompetenz ist eine der acht vom Europäischen Rat 2018 empfohlenen Schlüs­selkompetenzen für lebenslanges Lernen. Mehr als 17 Millionen Schüler*innen auf weiterführenden Schulen in der EU erlernen mindestens eine Fremdsprache; das sind 98,6% aller Kinder und Jugendlichen in diesem Schulzweig. Mehr als zehn Millionen (58,8%) lernen zwei oder mehr Fremdsprachen – allerdings mit großen Länderunterschieden. Im europäischen Durchschnitt lernen europäische Kinder drei bis vier Stunden in der Woche Fremdsprachen. Normalerweise beginnen die Schulen die Sprachausbildung am Ende der Grund- bzw. Primarschule, in Malta, Luxem­burg und Norwegen sowie in einigen deutschen Bundesländern sogar bereits ab der ersten Klasse.

Mehrsprachigkeit ist Teil des europäischen Selbstverständnisses: Seine sprachliche Diversität ist manifester Ausdruck von Europa als „Land der (vielen) Länder“, in dem kulturelle Vielfalt – und Kultur basiert auf Sprache - als ein Mehr an Perspektiven und daher an Möglichkeiten wahrgenommen wird. In Europa ist man Irin, Pole, Italienerin, Däne usw. – und immer zugleich Europäer*in. Indem Europa viele Spra­chen spricht und sich darin versteht, ist es zugleich Vielfalt und Einheit. So gelebte Mehrsprachigkeit ist damit eher die Basis für einen angestrebten „paneuropäischen Föderalismus“ als, wie vorgeschlagen, die Setzung oder Schaffung einer einzelnen europäischen Kommunikationssprache nach Englisch.

Deutsch in Europa – Teil eines Ganzen

Deutsch ist mit knapp 20% der EU-Bevölkerung die meistgesprochene Muttersprache in der EU; mehr als 10% der Europäer beherrschen Deutsch als Fremdsprache. Deutsch gehört zu den 24 Amtssprachen der Europäischen Union und genießt als eine von drei Verfahrenssprachen eine Sonderstellung in der Europäischen Kom­mission: Das Kollegium der Kommissare arbeitet in Deutsch, Englisch und Franzö­sisch und auf Grundlage von Dokumenten, die in diesen drei Sprachen vorgelegt werden müssen. Deutsch ist im europäischen Schulsystem mit drei Millionen Schüle­r*innen (23,1%) nach Englisch und knapp nach Französisch die am meisten gelernte Fremdsprache. In acht Ländern der EU ist Deutsch die zweithäufigste Fremdsprache.

Deutsch ist damit im europäischen Sprachensystem qualitativ und quantitativ fest verankert. Es ist Teil der gemeinsamen Kultur Europas und trägt - über die ihm inhärenten kulturellen Perspektiven - zur Integration Deutschlands in das größere europäische Haus bei.

Mehrsprachigkeit in Deutschland – Gesellschaft und Sprache im Wandel

Auch in Deutschland entspricht Mehrsprachigkeit für weite Bevölkerungsteile der Lebensrealität und bringt darin die gesellschaftliche Entwicklung v.a. nach 1945 auf den Punkt: 1) Durch sukzessive Zuwanderung aus verschiedenen Gründen und in verschiedenen Wellen; 2) durch seine auch rechtliche Öffnung für Menschen aus der EU und aus Drittstaaten; 3) durch die schließliche Selbsterkenntnis als Einwan­derungsland und die wachsende Erkenntnis der damit einhergehenden Vorzüge hat sich in Deutschland – wo gut ein Viertel der Bevölkerung mittlerweile einen Migrationshintergrund hat - nicht nur eine Gesellschaft mit vielen verschiedenen kulturellen Perspektiven, sondern auch mit vielen verschiedenen Sprachen gebildet: Sprachen, die mit dem Deutschen koexistieren, kooperieren, gelegentlich konfligie­ren. Die deutsche Sprache erfährt dabei flüchtige und bleibende Veränderungen auf allen linguistischen Ebenen, wie sie insgesamt den normalen Sprachwandel aus­machen – mit anderen Worten: sie lebt.

In Deutschland gibt es Sprechergruppen, die vorwiegend in einer anderen Sprache als Deutsch kommunizieren. Die Mehrzahl der Zuwanderer geht jedoch situationsab­hängig oder vollständig auf die Umgebungssprache Deutsch über – als pragmatische Ergänzung zur ursprünglichen (Erst-)Sprache -, da dies immer noch eine Vorausset­zung für gesellschaftliche Teilhabe ist und fehlende Deutschkenntnisse ein Aus­schlusskriterium sein können. Dies rechtfertigt z.B. eine klare Orientierung der schu­lischen Bildung auch auf Deutscherwerb, ggfs. als Zweitsprachenunterricht - der dabei ja Vorteile aus der real existierenden Mehrsprachigkeit im Klassenraum zie­hen kann. So wächst der Anteil der Bevölkerung, der „Deutsch und mehr“ spricht: ca. 40% aller Kinder sprechen im Alltag mehr als eine Sprache; mit allen damit verbun­denen Chancen.